
(von Barbara Driessen, Maastricht) Babys können schreien, ohne eine einzige Träne zu vergießen. Erst mit sechs bis acht Monaten beginnen ihre Augen tatsächlich zu tränen. Tiere wiederum haben zwar Tränenflüssigkeit, um die Augenoberfläche zu befeuchten, aber keine emotionalen Tränen. „Emotionales Tränen oder Weinen ist etwas, das wir im Laufe der Evolution erlernt haben“, sagt die Biochemikerin Marlies Gijs von der Universitätsklinik Maastricht.
Doch wozu genau, bleibt ein wissenschaftliches Rätsel. „Tränenflüssigkeit ist ein unglaublich faszinierendes Körperfluid“, sagt sie. Gleich hinter der deutschen Grenze bei Aachen leitet Gijs an der Augenklinik des Maastricht UMC ihr eigenes Tear Fluid Research Lab.
Dort untersucht sie die vermeintlich unscheinbaren Basaltränen: jene Tränen, die permanent die Augenoberfläche befeuchten. Dort sammelt sie Proben und analysiert ihren molekularen Inhalt. Und sucht nach Spuren schwerer Krankheiten wie Alzheimer-Demenz oder Huntington. „Besonders spannend finde ich das, was in ihnen steckt, also der molekulare Inhalt.“ In ihrem Labor werden die Proben eingefroren, aufbereitet und durch empfindliche Messverfahren geschickt. Was für Laien wie klares Wasser aussieht, entpuppt sich unter dem Mikroskop als dichtes Gemisch aus Elektrolyten, Proteinen, Antikörpern und Signalmolekülen.
Tränen als ein Mini-Spiegel des Körpers
Tränen, das zeigt Gijs, sind eine Art Mini-Spiegel des Körpers. Auf einer Präsentationsfolie listet sie auf, was sich alles darin nachweisen lässt: Proteine und Biomarker, die auf Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Huntington, SARS und COVID hinweisen, aber auch auf Augenkrankheiten wie etwa Glaukome, Veränderungen der Hornhaut (Keratokonus) oder Entzündungen im Augeninneren (Uveitis). Selbst Marker für kleine Gefäßschäden im Gehirn lassen sich im Tränenfilm finden. „Tränenflüssigkeit ist das naheliegendste Untersuchungsmaterial für lokale Augenerkrankungen“, sagt Gijs, „aber eben nicht nur dafür.“
An der Universität und in der Klinik liefen derzeit etwa 20 bis 30 Projekte zu unterschiedlichen Erkrankungen und Krankheitsbildern, in denen sie Tränenflüssigkeit untersuchten, so Gijs. Ihr bislang größtes und international beachtetes Projekt dreht sich um Alzheimer-Demenz. In einer Studie untersuchte sie vier Gruppen: gesunde Kontrollpersonen, Patientinnen und Patienten mit subjektiven Gedächtnisbeschwerden, Menschen mit leichten kognitiven Störungen und Personen mit manifester Demenz. „Wir haben von all diesen Patienten Tränenflüssigkeit gesammelt und die bekanntesten Alzheimer-Biomarker analysiert“, berichtet sie. „Und wir haben gesehen, dass diese Marker mit zunehmender Krankheitsstärke ansteigen.“
Die lange Reise zur Diagnose
Dass Alzheimer ein gewaltiges gesellschaftliches Problem ist, macht Gijs mit wenigen Sätzen klar. Alzheimer sei eben nicht nur „Gedächtnisprobleme“, sondern ein ganzes Bündel an Symptomen, das den Alltag massiv beeinträchtige. Und zwar auch für Familie und Freunde. „Und weil es keine heilende Behandlung gibt, ist es heute die führende Todesursache“, betont sie. Besonders eindrücklich schildert sie den Leidensweg des Patienten. „Es beginnt mit der ersten Beschwerde“, erklärt sie. „Mit einigen Gedächtnisproblemen, die der Betroffene vielleicht bemerkt. Dann geht man einmal zum Hausarzt, wahrscheinlich zweimal, dreimal oder noch öfter, weil diese Gedächtnisprobleme am Anfang sehr vage sind. Das kann sich hinziehen, mit Monaten zwischen den einzelnen Besuchen.“
Am Ende dieses Weges steht häufig eine Lumbalpunktion: „Um die Diagnose zu stellen, braucht man eine Probe der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit, die man über eine Lumbalpunktion gewinnt“, sagt Gijs. „Das ist ein ziemlich unangenehmer Eingriff und auch nicht ohne Risiko oder mögliche Komplikationen, gerade bei älteren Patienten.“ Zusammen mit neuropsychologischen Tests, MRT und Blutuntersuchungen führt sie oft erst nach Jahren zur Diagnose.
Tränen statt Lumbalpunktion
Genau an dieser Stelle setzt ihre Vision an. „Ich würde dieses Tränenfluid gerne nutzen, um Alzheimer viel früher zu diagnostizieren“, sagt sie. Ihr schweben einfach durchführbare Tränentests vor, die etwa schon in der Hausarztpraxis oder beim Neurologen durchgeführt werden. „Auf einfache, nicht-invasive Weise. Denn die Entnahme von Tränen ist sehr einfach.“
Es gebe bereits einige Tests für Augenerkrankungen auf dem Markt, bei denen man Tränenflüssigkeit sammele, die dann wie ein COVID-Test oder Schwangerschaftstest ausgewertet würden. Allerdings sei das eine Frage der Empfindlichkeit: „Die Marker, nach denen wir suchen, liegen in viel geringerer Konzentration vor – also etwas schwieriger zu entdecken als etwa eine COVID-Infektion. Aber grundsätzlich ist es durchaus möglich.“
Frühe Diagnose – heikle Fragen
Doch je früher man eine solche Krankheit erkennen kann, desto drängender werden die ethischen Fragen. Die pathologischen Veränderungen im Gehirn beginnen Jahrzehnte vor den ersten Symptomen. „Die Frage ist also, wann wir zeitlich ansetzen wollen, und auch, ob wir es überhaupt in jedem Fall wollen, denn es gibt schließlich keine Heilung. Würden Sie wirklich wissen wollen, dass in Ihrem Gehirn bereits etwas passiert, wenn Sie gar nicht eingreifen können?“ Gijs weist außerdem darauf hin, dass andere ein Interesse an solchen Informationen haben könnten: „Vielleicht möchte Ihr Arbeitgeber das wissen. Oder Ihre Krankenversicherung.“
Mit ihrer Arbeit an der Schnittstelle von Augenheilkunde und Neurologie macht Marlies Gijs aus einem unscheinbaren Tropfen Tränenflüssigkeit ein hochsensibles Diagnosewerkzeug: Und stellt dabei unbequeme ethische Fragen ebenso in den Mittelpunkt wie technische Innovation. Sie denkt Krankheiten vom Alltag der Patientinnen und Patienten her, sucht nach schonenderen Verfahren und treibt zugleich die Grundlagenforschung auf weltweitem Niveau voran. Gerade damit steht sie für das, was unter „New Dutch“ verstanden wird: eine neue Generation von Forscherinnen und Forschern in den Niederlanden, die mit Neugier, Mut und Sinn für gesellschaftliche Verantwortung daran arbeitet, Medizin und Lebensqualität ganz konkret zu verändern. (NBTC)
Foto: New Dutch
Ein Tropfen Wahrheit
Wie man an der Uniklinik Maastricht Krankheiten im Augenwinkel aufspürt
Veröffentlicht am: 14.12.2025
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